Test: Native Instruments Kinetic Toys
|Kinetic Toys tritt an, die Welt der Musikspielzeuge vergangener Zeiten in einem neuen Licht zu präsentieren. Während andere Libraries dieser Art sich eher auf statische Reproduktionen mit chromatischen Multisamples beschränken, bringt Kinetic Toys für den Kontakt Player 5 die Klangspielzeuge regelrecht in Bewegung.
Dabei bleibt es nicht bei Spielzeug-Instrumenten und Music-Boxen. Aufziehbare Roboter, Spielzeugeisenbahnen, Flipperautomaten, Tischtennisbälle und Bunsenbrenner sind ebenfalls an Bord. Kinetic Toys baut auf mehr als 200 Aufnahmen dieser Klangquellen auf und verbindet diese mit synthetischen Klängen.
Entwickelt wurde Kinetic Toys vom Sound Designer Jeremiah Savage, der sich ein Jahr lang auf die Suche nach außergewöhnlichen Klangquellen begeben hat und dabei speziell auf Flohmärkten und bei Antiquitätenhändlern fündig geworden ist. Auch klingende Souvenirs seiner eigenen Kindheit sind dabei. Die rohen Klänge seiner Fundstücke hat er mit Synth-Layern kombiniert.
Entstanden ist eine Mischung aus Retro-Klängen und Geräuschen. Die tonal spielbaren Klänge sind allesamt liebevoll komponiert und verfügen über eine besondere, persönliche Note.
In den 35 Basis-Soundsets …
… werden jeweils acht Sounds als Layer kombiniert, gemischt und mit Effekten bearbeitet. Vier Layer basieren auf Samples der Spielzeuge, die anderen vier Layer sind synthetische Klänge, die geschmackvoll an die Spielzeugklänge angepasst sind und in Form eines stimmigen Klang-Mikrokosmos ergänzen. Jeder Basisklang ist des Weiteren mit Snapshots ausgestattet, also fertigen Konfigurationen.
Die Klangsteuerung erfolgt über eine Aufzeichnung der Maussteuerung, eingeschränkt auch (nach Rechtsklick und MIDI Learn) über externe Controller-Hardware. Auch eine zweidimensionale XY-Steuerung ist inbegriffen. Allerdings lässt sich diese (und einige andere Parameter) nicht frei externen Controllern zuweisen. Einige Controller sind bereits fest verdrahtet, zu sehen im MIDI Automation – Tab:
Zu Weihnachten hat NI bereits eine kleine Version von Kinetic Toys mit dem Namen Kinetic Treats den Klangbastlern beschert. Kinetic Treats kostet inzwischen 99.- EUR. Die nun erhältliche Version Kinetic Toys geht weit über den Funktionsumfang von Kinetic Treats hinaus. Wer Kinetic Treats sein eigen nennt, kann Kinetic Toys zu einem vergünstigten Upgrade-Preis erwerben.
Hier habe ich ziemlich wahllos Noten gespielt und mit der Maus diverse Regler bewegt. Es entstehen sofort Klanglandschaften mit rhythmischen Elementen, und man merkt schon, dass es nicht schwierig ist, eine Klangkulisse, etwa für die Filmmusik und Spielevertonung, zu erstellen.
Kinetic Toys in der Praxis
Das Interface gibt sich verspielt und lädt zu einer intuitiven Bedienung ein.
Die Ballerina links steuert in ihrer Drehung die Positionen der Tänzer im zentralen XY-Feld. Entsprechend verfügt die Balerina auch über X- und Y-Positionen, die frei, manuell per Record-Modus und durch einen internen, temposynchroner Step-Sequencer angefahren werden.
Die Ballerina fährt vier Klangpositionen ab, A, B, C und D. Will man am Klang basteln, wechselt man zum Edit-Modus, wählt der Reihe nach die Positionen an, und schiebt die Tänzer auf entsprechende Platzierungen im XY-Feld.
Die Origami-Flieger markieren die Toy-Sounds, die leuchtenden Sternchen (hier auf gleicher Position mit den Papierfliegern) die Synthesizersounds. Sternchen und Papierflieger der selben Farbe können über die kleinen Ballerinas links neben dem Mixer verlinkt werden. Im Link-Modus reichen sie ich die Hände.
Das ist doch mal eine hübsche grafische Umsetzung eines Link-Befehls. Im XY-Feld, durch das Papierflieger und Sternchen schweben, werden die Lautstärke sowie Klangübergänge zwischen alternativen Samples gesteuert.
In der oberen Abbildung finden sich am Boden noch weitere grafische Elemente: Planet, Rakete, grünes Monster, Stern. Dabei handelt es sich um Effekte und deren Steuerung: Bitcrusher/Distortion, Raumeffekte (Echo/Hall), Modulationseffekte, Resonanzeffekte (Filter, EQ).
Die Effektsteuerung übernimmt der Roboter: Auch er bietet eine zweidimensionale XY-Steuerung mit vier editierbaren Eckpositionen (A, B, C, D), die man anwählt und dann die Effekt-Icons individuell platziert.
Die Modi sind mit denen der Ballerina identisch: Per Step-Sequencer werden die vier Eckpunkte temposynchron angefahren. In einem zweiten Modus stellt man die Geschwindigkeiten beim Fahren über die X- und Y-Achse ein, zum Dritten gibt es einen Record-Modus, in dem man eine individuelle Bahn aufzeichnet und diese dann auch nachträglich im Tempo anpassen, jedoch nicht exakt synchronisieren kann. In einem vierten Modus reagiert der Roboter als Slave auf die Bewegung der Effekt-Icons.
Sowohl bei der Ballerina als auch beim Roboter kann man im Sequencer-Modus durch Klicken und Ziehen die Positionen A, B, C und D verändern, also A in B tauschen oder B in C. Es sind damit auch Wechsel zwischen nur zwei (A, B, A, B) oder drei (A, A, B, C) Positionen möglich. Auch der Radius der Kreisbahn, über die die Positionen angefahren werden, kann verringert werden. Bei maximaler Ausdehnung des Kreises erreicht man mit entsprechend abwechslungsreichen Positionierungen der Papierflieger, Sternchen, der Rakete und der anderen Icons drastische Klangübergänge. Zieht man den Kreis enger, werden diese Übergänge weicher.
Kinetic Toys lebt von den fließenden Modulationen. Spielerische Fähigkeiten werden eigentlich nicht verlangt, lediglich ein Einfühlungsvermögen in die Klänge ist gefragt. Bei Kinetic Toys geht es überwiegend um Klangkulissen mit Retro-Charakter. Kinetic Toys ist eine Sammlung von Spielzeuginstrumenten, wie sie bislang in dieser Form noch nicht aufbereitet wurden.
Die Effekte können übrigens auch ganz abgeschaltet werden. Andererseits ist es möglich, Roboter und Ballerina zu verlinken, sodass der Roboter (und damit die Effektsteuerung) den Bewegungen der Ballerina (Klangquellensteuerung) folgt.
Im kleinen Mixer …
… stellt man die Lautstärke der Spielzeug-Samples und der Synthie-Sounds ein, daneben die globale Intensität der Effekte. Steht der Roboter ganz unten, sind die Effekte quasi abgeschaltet. Die Mixer-Abteilung ist der einzige Bereich, indem man per Rechtsklick und MIDI-Lernfunktion externe Controller manuell zuweisen kann. Alle anderen Parameter können nicht frei adressiert werden, was eine gewisse Einschränkung für die Performance darstellt. In der Praxis wird man jedoch XY-Bewegungen der Ballerina und des Roboters editieren und erreicht auf diese Art abwechslungsreiche Klangmetamorphosen, die für die meisten Anwendungen keiner weiteren Steuerung bedürfen.
Hüllkurven und LFOs
Als zusätzliche Modulatoren stehen je zwei Hüllkurven und LFOs bereit. Auch hier ist die grafische Umsetzung sehr nonkonformistisch:
Sie sehen hier die beiden Hüllkurven (rechts, als aus dem Regal gezogene Bücher) und am unteren Rand die Zuweisung zu den Zielparametern;
Bei den LFOs klickt man auf die Ufos, um die Wellenform zu wechseln (Sinus, Sägezahn, Rechteck) und am Beam, um diese in Amplitude und Frequenz zu gestalten. Temposynchron geht es hier allerdings nicht zu, und die Hüllkurven lassen sich auch nicht loopen.
Das die Technik betrifft, wären wir soweit durch. Nun sollen noch einige Klangbeispiele folgen, die zeigen, wie vielseitig Kinetic Toys ist.
Klangbeispiele
Mit dem Chemistry Set betritt man das Labor eines Alchemisten. Ein fragiler, orgelähnlicher Klang sorgt dafür, dass der Sound tonal spielbar ist.
Das Constructor Set, zusammen mit einem Beat von Toontracks EZdrummer, EZX Post Rock:
Kinetic Toys habe ich im letzten Audiodemo mit der Black Box Analog Design HG-2, die Drums mit bx_subsynth und u-he Presswerk bearbeitet. Ohne die Effekte würde es sich so anhören:
Ein anderer Snapshot aus dem Constructor Set (wie eingangs erwähnt, gibt es zu allen Basis-Patches eine Reihe von Snapshots mit sehr unterschiedlichen Varianten):
Die Drums stammen von EZdrummer, Pop Kit, Disco Grooves. Bei dem zuletzt gehörten Snapshot „Hammer“ stehen die Ballerina und der Roboter still. So hört es sich an, wenn man diese temposynchron in Bewegung versetzt (ohne Editieren der Eckpositionen A, B, C, D):
Es dürfte nicht überraschen, dass man auch abgedrehte, destruktive bis atonale und hässliche Sounds mit Kinetic Toys machen kann. Im folgenden Beispiel stammt der rappelnde Bass vom Preset „Jack in a Box“, die verstörende Melodie, welche ab Takt 16 einsetzt, vom Patch „Melodica“, Snapshot „Concertina“. Die Drums liefert wiederum Toontracks EZdrummer, hier mit dem Erweiterungspaket EZX Claustophobic:
Auch Stimmen findet man in Kinetic Toys. Retrobot kann sprechen:
Fazit
Kinetic Toys eröffnet neue musikalische Exkursionen durch das Reich antiker Musikspielzeuge und Automaten, stilvoll garniert mit Geräuschexperimenten und unterstützt durch synthetische Klänge, die sich erfreulicherweise aber nicht in den Vordergrund drängen, sondern eher für ein wenig Klangfülle sorgen.
Anders als bei allen mir bekannten Sample-Libraries altgedienter Klangerzeuger wie Spieluhren oder Melodikas belässt es Kinetic Toys nicht bei der authentischen Reproduktion, sondern setzt die Instrumente durch ein ausgeklügeltes, automatisch und bei Bedarf auch temposynchron ablaufendes Klang-Steuerungssystem in Bewegung. So entstehen Klangevolutionen, die teils fragil und bizarr anmuten. Man trifft aber auch auf klassisch tonal spielbare Instrumente.
Eine üppige Ausstattung mit einzigartigen Aufnahmen in exzellenter Audioqualität, die als Layer über den Mixer ausbalanciert werden können, steht zur Verfügung, um über zwei XY-Agitatoren, Ballerina und Roboter, in Bewegung versetzt zu werden. Dabei werden vier Samples überblendet und ebenso viele Effekte ins Spiel gebracht.
Die beiden XY-Steuerungen können auch zum Tempo synchronisiert werden. Damit ist es möglich, rhythmische Sequenzen zu erzeugen, die dann zusammen mit externen Beats extravagante Grooves möglich machen. Noch schöner wäre es, wenn die LFOs auch zum Tempo synchronisierbar wären.
Die ansprechende Grafik verzichtet dabei auf althergebrachte Bedienelemente und ersetzt diese durch phantasievolle Figuren aus der Spielzeugwelt. Das Editieren ist dennoch rasch erlernt; der Lernprozess gestaltet sich als Entdeckungsreise durch den Klangkosmos von Kinetic Toys und macht Spaß. Ein kurzer Blick ins englischsprachige PDF dürfte letzte Unklarheiten beseitigen.
Das Konzept der editierbaren Automation scheint die übliche Steuerung über frei zuweisbare externe Controller via MIDI-Lerndialog, wie man sie bei den meisten Kontakt-Instrumenten antrifft, technisch unmöglich zu machen. Wer ganz individuelle Klangwechsel entwerfen will, zeichnet die Bewegungen durch die XY-Felder per Record-Taster auf.
Unterm Strich ist Kinetic Toys eine einzigartige Fundgrube von Spielzeuginstrumenten, die hier zu einem extrem lebendigen Klangverlauf und weitreichenden Experimenten benutzt werden können. Kein anderes Sortiment „antiker“ Klangquellen kann in puncto Lebendigkeit und Experimentierpotenzial mithalten.
Kinetic Toys ist eine klare Empfehlung für Liebhaber mechanischer Retro-Sounds mit viel Patina und Spielgeräuschen. Einsatzbereiche sind die Filmmusik und artverwandte Genres sowie Projekte, die über die üblichen Sample-Sounds hinaus gehen und neue Klänge zu Gehör bringen. Der Preis von 149.- EUR ist nicht zu hoch angesetzt. Wer Kinetic Treats sein eigen nennt, zahlt für das Upgrade nur 99.- EUR.
Testautor: Holger Obst
Plus:
- einzigartige Sammlung von Spielzeuginstrumenten vergangener Zeiten, Geräuschen und synthetischen Klängen
- ausgedehnte Klangmetamorphosen und experimentelle Klangreisen möglich
- ausdrucksstarke Klänge mit viel Eigenleben
- leicht editierbare, phantasievoll gestaltete Oberfläche
- sehr gute Klangqualität
- große Auswahl an fertigen Klängen
Neutral:
- Kinetic Toys setzt auf eine Automation der Klänge, nicht auf eine umfassende Steuerung über externe Controller.
Minus:
- LFOs nicht zum Tempo synchronisierbar
Preis: 149.- EUR (Upgrade Kinetic Treats: 99.- EUR)
System: Kontakt 5 Player